Ich liebe Weiterbildungen. Denn es gibt unglaublich viele spannende Themen, mit denen ich mich beschäftigen möchte.
Heute begann meine Ausbildung zur Achtsamkeitstrainerin. In 7 Tagen lerne ich sowohl Theorie als auch praktische Übungen. Um die Erfahrung aus den Übungen richtig zu vertiefen, werde ich einige anschließend eigenständig weiterführen. Selbsterfahrung gehört zu den Ausbildungen dazu - was ich nicht selber gespürt, erfahren und erlebt habe, kann ich auch nicht weitergeben.
Was Achtsamkeit ist und wie sie wirkt, kannst du beim Deutsche Fachzentrum für Achtsamkeit (DFME) nachlesen.
# Tag 1: Bohnen zählen...
Die Übung, die mich heute am meisten berührt hat, war Achtsames Gehen:
Wir gingen in extrem langsamen Zeitlupentempo im Kreis und sollten genau hinspüren, wie unsere Füße am Boden abrollen. Runde um Runde um Runde. Im Schneckentempo. Dabei auf den Atem achten und gegen aufkommendes Kopfkino ein Mantra denken.
Ich habe direkt einen starken Drang verspürt, schneller gehen zu wollen. Ich bin ein sehr schneller, sehr energetischer Mensch - dieses bewusste langsame Gehen brachte mich sehr an meine Grenzen.
Bis ich merkte, dass ich mir dieses langsame Gehen einfach gönnen kann. Dass ich mir - gefühlt zum ersten Mal seit langem - erlauben darf, langsam zu sein. Dass ich loslassen und genießen kann.
Und auf einmal spürte ich meine Füße sehr deutlich, merkte welcher Muskel wann ansprang, wie das Zusammenspiel meiner Beine funktionierte - etwas, was man im Alltag nicht merkt, denn die Abläufe passieren unbewusst und routiniert.
Der Nachhauseweg am Abend per Fahrrad durch Berlin war...laut...und schnell...ich hatte das Gefühl, das alle meine Sinne offener waren. Dass mir ein Filter fehlte. Auf einmal empfand ich den lauten Verkehr als sehr anstrengend und wich auf kleine Nebenstraßen aus.
Ich hörte alles viel deutlicher - den quietschenden Sattel des Radfahres, der mich überholte. Das Rattern des Rollkoffers des Passanten, der über die Straße ging. Das Knirschen der Schuhe des Jungen auf dem leicht sandigen Weg im Park. Alles war überdeutlich. Ich fing an, auf die Geräusche zu achten und zu staunen - auf einmal empfand ich es auch nicht mehr als Stress sondern nur noch als Überraschung. Ich bewertete nicht mehr - sondern nahm nur wahr.
Und nun sitze ich hier und zähle Bohnen...warum?
Jeder Teilnehmer hat 8 Bohnen bekommen, die wir in eine Hosentasche stecken sollten. Und immer, wenn wir merken, dass wir eine Situation bewusster wahrnehmen oder einen schönen Moment haben, sollen wir eine Bohne in die andere Tasche wechseln.
Die Herausforderung ist, in diesen Momenten auch daran zu denken, eine Bohne zu wechseln - und jetzt mich noch daran zu erinnern, welche Situationen mit den Bohnen gemeint waren.
Ich habe 4 Bohnen gewechselt - das klingt nicht viel, aber ich freue mich. Denn ich weiß noch, welche Situationen das waren. Und die notiere ich jetzt in mein neues “Bohnen-Buch”.
Ich freue mich, dieses mit achtsamen und schönen Momenten zu füllen - Tag für Tag.
Und bin gespannt auf Tag 2.
# Tag 2: Das Kind in mir...
Es fing ganz harmlos an. Mit der Gruppe durcheinander durch den Raum gehen. Langsam, schnell, noch schneller, wieder langsamer, rückwärts - zwischendurch stehen bleiben und die eigene Balance spüren. Dann über den Boden rutschen wie über eine Eisfläche - hat Spaß gemacht, war wie früher. Dann hieß es “entdecke den Boden”. Auf allen Vieren, rutschend, krauchend, kriechend, rollend...mein Erwachsenen-Ich meldete sich mit “Hemmung!”, mein Kind-Ich schubste es beiseite und sagte “lass dich doch einfach drauf ein”. Auf dem Boden liegen, seufzen, Töne von sich geben, das Vibrieren im Körper spüren. Den Atem beobachten, den Körper spüren, riechen, hören, einen Punkt betrachten.
Als nächstes suchten wir uns ein Objekt unserer Wahl aus - ich nahm drei kleine Holzstücke - sie erinnerten mich an Treibgut, welches ich am Meer finde.
Mit geschlossenen Augen betastete ich es von allen Seiten - es gab glatte, weiche Stellen, raue Fasern, Kurven und scharfe Kanten. Manche Stellen waren kühl, manche warm. Ich lauschte dem leisen Reiben meines Fingers auf der Oberfläche. Fuhr mit dem Holzstück durch mein Gesicht, über meine Lippen, an mein Ohr - es knisterte dort so schön. Meine Lippen konnten das Holz viel besser spüren, während der Tastsinn meiner Wangen oder am Hals weniger ausgeprägt war. Ich spielte weiter mit dem Holz rum, machte Geräusche, klopfte und rieb, auch auf dem Boden - und lauschte den anderen Teilnehmern, die alle andere Dinge hatten - laute und leise, dumpfe und helle, metallische und hölzerne.
Nach der Übung sollten wir aufschreiben, wie wir uns fühlen.
Ich fühlte mich frei und offen - aber auch schutzlos, verwundbar. Mir kamen die Tränen. Doch dann spürte ich eine innere Ruhe in mir, Selbstvertrauen und Stärke. Und ich wusste, dass meine innere Stärke hinter meiner Offenheit steht und ich nicht verletzt werden kann. Das beruhigte mich enorm und ließ mich unendlich frei fühlen.
Eine Bohne wanderte in die andere Tasche.
Nachmittags durften wir 90 Minuten achtsam spazieren gehen. Es war eine Wonne. Ich kniete nieder und beobachtete eine Biene - ihr flauschiges Fell, ihre kleinen Beinchen und wie sie eine lila Blüte nach der anderen anflog, ihr Köpfchen rein steckte und weiter flog. Ich zählte mit - sie brauchte unter einer Sekunde pro Blüte. Das kam mir auf einmal so hektisch vor - “arme Biene”, dachte ich.
Stattdessen betrachtete ich kleine Steinchen, lauschte den Blättern im Wind, hörte den Vögeln zu und fand viele Linien in meinen Händen, die ich noch nicht kannte.
So versunken muss sich ein Kind fühlen, wenn es niederkniet und Ameisen beobachtet - und auf einmal konnte ich nachvollziehen, warum Kinder wütend werden, wenn sie von nicht-achtsamen Müttern weiter gezerrt werden, während sie doch einen Schatz beobachten.
Während ich zur Spree ging, lief ich mit Absicht über Kanten, Stöcke, Scherben und Steine - ich wollte wissen, wie sich das anfühlte. Ich beobachtete die Wasseroberfläche, wie sie sich durch den Wind permanent veränderte. Wie die Kastanie, die ich ins Wasser schmiss, Ringe zog.
Dann waren die 90 Minuten um - es waren die wertvollsten 90 min, die ich seit langem erlebt habe. Denn es ist sehr schön, dass Kind in sich wieder zu entdecken. Neugierig zu sein. Sich Zeit zu gönnen. Loszulassen. Fallenzulassen.
Und eine Bohne wanderte in die andere Tasche.
Insgesamt waren es heute 5.
Ich freue mich auf Tag 3.
# Tag 3 - Pflaumenprobleme und Anis
Während es in den ersten Tagen um die Sinne Hören und Sehen ging, erforschten wir heute unseren Geschmacks- und Geruchssinn. Mit der gleichen Aufmerksamkeit und Neugier, die wir in den letzten Tagen geübt haben.
Zunächst ging es darum, sich Zeit zu nehmen: ein Stück Nahrung erst zu riechen und dann gaaaanz lange im Mund zu behalten, um den Geschmack richtig “aufzusaugen”. Neu war mir, dass Avocado nach einiger Zeit eine gewisse Schärfe entwickelt, die mich an Schnittlauch erinnert hat.
Aufgabe:
Denk an ein schwieriges Thema, für welches du gerne eine andere Perspektive, einen anderen Weg finden möchtest, such dir ein Stück Nahrung und “kau noch mal richtig auf deinem Thema rum”.
Ich hoffte, die arme Pflaume, die ich mit meinem Thema belud, würde das aushalten. Was, wenn ich nie wieder Pflaumen essen kann?
Such dir dann einen neuen Geschmack, der dir neue Ideen, neue Gedanken bringen soll.
Nachdem ich die Pflaume und somit mein Thema runtergeschluckt habe, nahm ich eine Rucola-Blüte (frisch in Kreuzberg gepflückt…). Ihr süßer Geruch kontrastierte ihre leicht bittere, nussige Schärfe.
Mit diesem neuen Geschmack tauchte auf einmal, wie von Zauberhand, vor meinem inneren Auge eine neue Handlungsmöglichkeit für mein Thema auf. Eine innere Ruhe, eine innere Klarheit, die so scharf war wie die Rucola-Blüte selbst.
Etwas woran ich so lange schon “rum kaute” war auf einmal so klar und leicht - ich konnte es kaum glauben.
Derart sensibilisiert und mit der Aufgabe versehen, einzeln und daher schweigend Mittag zu essen, fühlte ich mich ob der Flut der Kreuzberger Essensangebote überfordert. Indisches Curry? Bei dem Gedanken an die ganzen Gewürze wurde mir schwindlig. Türkischer Vorspeisenteller? Totale Reizüberflutung.
Ich entschied mich für eine Pizza mit Zucchini, Aubergine und Kapern. Klang machbar.
Die Vorstellung, dass Auberginen fade sind, ziehe ich hiermit zurück. Die Kaper sorgte für Explosionen. Die heimlich von der Pizza runtergelutschte Tomatensoße war intensiv. Auch der Pizzateig ganz ohne Belag entfaltete sich enorm. Und alles zusammen - ein ganz neues Erlebnis.
Die anschließende Geruchsübung hatte es in sich. Ähnlich wie bei der Geschmacksübung sollte ein neuer Geruch eine neue Idee bringen, die ich brauchte, um eins meiner Probleme anzugehen.
Der von mir gewählte Anis erinnerte mich an Pastis, Pernod oder Raki - Urlaubsgefühle machten sich breit, Erinnerungen an Abende in Paris und Istanbul - und auf einmal kam mir die Lösung in den Sinn. Einfach so.
Wie kann das sein? Was passiert da?
Unser Geruchs- und Geschmackssinn ist direkt mit unserem limbischen System verbunden, wo unsere Emotionen, aber auch unsere Erinnerungen an Emotionen sitzen. Jeder kennt das Phänomen, dass uns Gerüche an etwas erinnern. Da wir in dem Moment des intensiven Riechens oder Schmeckens unsere kognitive Arbeit an dem Problem verlassen und den Raum für Gefühle betreten, schaffen wir auch Raum für neue Gefühle und damit für Ideen.
Im Laufe des Tages habe ich noch eine Pflaume gegessen, um die Erinnerung an das Problem von der Pflaume zu löschen - sie schmeckte köstlich!
Eben zog ich 7 Bohnen aus meiner Tasche.
Und freue mich auf Tag 4.
# Tag 4: Tief tauchen in nebligen Buchten
Heute ist es schwer zu berichten, was passiert ist. Denn es sind innere Prozesse, innere Erkenntnisse, die reifen und Raum einnehmen.
Es ging um Körperarbeit und Entspannung, um Loslassen und Fühlen. In Form von Bewegung, Gesprächen, Schreiben und Autogenem Training.
Ich arbeite schon lange mit Klienten an ihren Ressourcen und Potentialen und kenne das - dennoch war es heute für mich persönlich noch einmal überwältigend, was alles in einem Menschen steckt:
Alles was ich brauche ist in mir.
In diese Form der inneren Kraft und Stärke zu kommen ist eine enorme Bereicherung für die ich sehr dankbar bin.
In mir formen sich viele Ideen, wie ich meine Erfahrungen in Form von spannenden Übungen weiter geben kann - ob in Einzelarbeit, Workshops oder Retreats.
Eine Übung für dich:
Welchen Ort gibt es, an dem du maximal entspannen kannst? Wo du gut loslassen kannst? Dies kann ein realer oder fiktiver Ort sein. Schließe deine Augen und tauche tief in diesen Ort ein. Nimm all deine Sinne und nimm wahr, was du siehst, was du hörst, was du riechst, was du schmeckst und was du fühlst. Nimm diesen Ort tief in dich ein - lass dir für diese Übung 5-7 min Zeit, dass du richtig ins Schwelgen kommst und sich die Entspannung in dir breit machen kann.
Wenn du den Ort in dir gespeichert hast, denke an Situationen, die dich stressen und verbinde dich gleichzeitig mit diesem Ort - beobachte, wie sich dein Stresslevel senkt und wie du in Verbundenheit mit dem Ort reagieren oder handeln würdest. Welche Möglichkeiten und Handlungsoptionen sich aus der Entspannung heraus für dich ergeben.
Mein Entspannungsort ist diese neblige Bucht von Gelfa / Portugal - dort werde ich hoffentlich nächstes Jahr wieder ein Retreat anbieten. Wenn du nicht warten willst, komm doch im Oktober mit an die Costa da Caparica.
Heute waren es 5 Bohnen.
Ich freue mich auf Tag 5.
# Tag 5 - 7 - Zaubersätze im Trancezustand
Ich kenne den Begriff Autogenes Training noch aus den 70ern - mein Vater kam von einer Kur nach Hause und erzählte davon. Damals war es wohl die Entspannungsmethode Nummer 1. Selber habe ich es erst jetzt kennen und schätzen gelernt. Denn man kann Zaubersätze integrieren.
Im Einzelgespräch erarbeiteten wir einen Zielsatz - so wie wir uns in Bezug auf ein Thema/ ein Problem fühlen möchten.
Am Ende des Autogenen Trainings fällt man in einen hypnoseähnlichen Trancezustand - man ist wach, hört alles, kann auch denken, ist aber körperlich schwer. In diesem Zustand denkt man an seinen Zaubersatz und integriert diesen gewünschten Zustand in sich - und nimmt ihn so tief verankert in sein Leben auf.
Erfunden hat diese Form des Entspannungsverfahren, das auf Autosuggestion beruht, übrigens ein Berliner - Johannes Heinrich Schulz. Neben einer allgemeinen Entspannung sorgt es auch für eine Verbesserung des Konzentrationsvermögens sowie einer Vertiefung der Selbsterkenntnis.
Die letzten beiden Tagen (6 und 7) dienten der Übung und Praxis - jeder Teilnehmer stellte ein Achtsamkeitskonzept mit einzelnen Übungen vor - es war toll zu sehen, wie viel wir in der Woche gelernt haben und anwenden können.
Ich freue mich nun mein neues Wissen anzuwenden - stay tuned...
P.S.
4 Tage später: Mein Entspannungszustand hält an. Ich führe einzelne Übungen zu Hause durch. Meine innere Haltung ist insgesamt noch positiver als vorher. Ich beobachte mich in stressigen Situationen als klar und fokussiert. Mein Selbstmanagement ist deutlich besser. Ich höre auf meine innere Stimme, wann ich was brauche. Ich spüre eine tiefe innere Ruhe und Verbundenheit mit mir selbst.
Einfach wundervoll!